• Airport - Gegen die Zeit

    Der neue Thriller von Steeve M. Meyner

  • Airport - Gegen die Zeit

    Wie weit würdest Du gehen, um Deine Familie zu retten?

  • Airport - Gegen die Zeit

    Wem würdest Du trauen, wenn Dir keiner glaubt?

  • Airport - Gegen die Zeit

    Was würdest Du tun, wenn plötzlich alles von Dir abhängt?

Kapitel 4

8:28 Uhr
An Bord des Flugzeugs

»Platz sechsunddreißig D. Ihr Sitzplatz befindet sich da hinten. Wir wünschen ihnen einen angenehmen Flug mit Air Berlin, Herr Lang«, wurde Norbert von einer netten, dunkelhaarigen Stewardess begrüßt, nachdem sie einen Blick auf sein Handy mit der Bordkarte geworfen hatte.

Aber eigentlich hatte er gar kein Ohr für die freundlichen Worte der Flugbegleiterin. Alles, was ihn interessierte und worauf sämtliche seiner Sinne gerichtet waren, das war seine Familie. Die Hoffnung, dass die Odyssee jetzt gleich ein abruptes, aber glückliches Ende finden würde, trieb ihn an.

So schnell es ihm möglich war, eilte er zur sechsunddreißigsten Sitzreihe. Schon aus einiger Entfernung sah er nur leere Plätze. Von seiner Frau und seinen beiden Kindern war nichts zu sehen.

Norberts Herz begann zum wiederholten Male, wie verrückt zu schlagen. Das Fünkchen Hoffnung, welches ihn bis gerade eben noch beflügelt hatte, zerplatzte wie eine Seifenblase. Es dauerte nicht lange, bis er auch die restlichen Passagiere durchgeschaut hatte. Aber von seiner Familie fehlte weiterhin jede Spur.

»Boarding completed«, schallte es durch die Lautsprecheranlage des Flugzeuges. Jetzt war er also an Board und seine Frau und seine Kinder mussten noch irgendwo auf dem Flughafengelände sein. Unmöglich konnte er hier drin im Flieger bleiben. Sofort machte er auf dem Absatz kehrt und rannte den schmalen Mittelgang zurück zum Eingang.

Auf halber Strecke blockierte jedoch ein langer und kräftiger Mann, der sich erfolglos bemühte, einen mittelgroßen Handkoffer in die bereits völlig überfüllte Gepäckablage zu quetschen, den an sich schon schmalen Durchgang. Doch egal, was der Mann auch versuchte, die Klappe ließ sich nicht schließen.

»Könnten sie bitte ... ähh ... könnte ich bitte schnell an ihnen vorbei. Ich muss wirklich ganz, ganz dringend nach vorn zum Eingang«, bat Norbert vorsichtig und versuchte dabei seine Aufregung nicht durchklingen zu lassen.

»Was?«, fuhr ihn der Mann an. Schon am Klang seiner Stimme war zu hören, dass er kurz vor einer emotionalen Explosion stand.

»Ich müsste bitte ganz, ganz dringend an ihnen vorbei. Würden sie mich bitte durchlassen?«

»Denkst du etwa, ich stehe zum Spaß hier? Dieses ganze Gerümpel hier stopft die Ablage so voll, dass meine Tasche nicht mehr reinpasst«, schimpfte der Mann wütend, ohne auf Norberts Bitte einzugehen, und begann, zwei der Taschen, die anderen Passagieren gehörten, herauszuziehen.

»Hey, jetzt reicht's aber! Lassen sie meine Tasche in Frieden!«, rief eine junge Frau mit kurzen Haaren, die wild in alle Richtungen standen, aus der Nachbarreihe, als der Mann ihre Tasche herauszerrte.

Der Mann ließ sich nicht beirren und stopfte nun stur seinen Koffer in den frei gewordenen Platz.

»Sie können doch nicht einfach meine Tasche rauswerfen«, empörte sich die junge Frau nun noch lautstärker, da der Mann überhaupt nicht auf ihren Protest reagierte. Mehrere Passagiere kamen ihr zu Hilfe, sodass es fast zu einem Handgemenge kam. Eine Stewardess und ein Steward eilten aus dem vorderen Bereich der Chartermaschine hinzu, um den Streit zu schlichten.

Durch den ganzen Aufruhr war es für Norbert nun erst recht völlig unmöglich, zum Eingang des Flugzeuges zu gelangen. Da sich schon genügend andere in die Auseinandersetzung eingemischt hatten, hielt sich Norbert zurück und wartete auf eine Gelegenheit, um an dem Mann vorbeizukommen. Die Sorge um seine Familie ließ ihn sowieso keinen klaren Gedanken fassen.

Der Streit schien unterdessen außer Kontrolle zu geraten, als sich eine unscheinbare Frau zu Wort meldete, bei der es sich offensichtlich um die Gattin des wütenden Mannes handelte.

»Harald, du kannst doch nicht ...«

»Sei still und setz dich wieder hin«, entgegnete er herablassend, doch sie ließ sich nicht den Mund verbieten.

»Nein, Harald! Ich bin jetzt nicht still. Jetzt nicht! Du bist so überaus peinlich ...«

Eine weitere Stewardess war inzwischen dazugekommen und forderte, nachdem sie sich den Sachverhalt hatte erzählen lassen, mit strenger Stimme: »Sie nehmen ihren Koffer bitte wieder heraus und stellen die Taschen, die bereits dort standen, wieder zurück!«

Der Mann, der schon zuvor durch jeden Versuch der Schlichtung nur noch wütender und unbeherrschter geworden war, setzte sofort zum Widerspruch an. Sich von einer Flugbegleiterin einen Befehl geben zu lassen und diesen dann auch noch auszuführen, war er nicht bereit.

»Wieso sollte ich das tun? Ich habe das gleiche Recht wie alle anderen auch.«

»Ganz genau!«, antwortete die Stewardess ganz ruhig, aber doch sehr bestimmt, »Sie haben das Recht, ihren Koffer in die Ablage zu legen, wenn dort Platz ist, oder ihn unter dem Vordersitz zu verstauen. Das Recht, Gepäckstücke umräumen zu lassen, das habe nur ich, denn ich bin der Percer auf diesem Flug. Ja?«

»Sie sind was?«

»Ich bin die Leiterin des Kabinenpersonals und ich möchte sie jetzt noch einmal in aller Form und mit allem Nachdruck bitten, ihren Koffer wieder aus der Ablage zu nehmen und die anderen Taschen zurückzustellen. Dann werden wir auch einen Platz für ihr Gepäckstück finden.«

»Und wenn ...«, begann der Mann noch einmal, doch die leitende Stewardess hob nur ihren Zeigefinger in die Höhe, schüttelte ganz leicht ihren Kopf und blickte den Mann mit einem derart strengen Blick an, der klar machte, dass sie keinen Widerspruch dulden würde, sodass er plötzlich gehorchte.

»Dankeschön«, sagte sie und blickte schlagartig wieder sehr freundlich. An die anderen Passagiere gewandt, fügte sie noch hinzu: »Bitte nehmen sie wieder ihre Plätze ein, damit wir schnellstmöglich mit den Startvorbereitungen beginnen können.«

Norbert wartete die ganze Zeit still ab. Er hatte im Augenblick selbst mehr als genug Probleme, als dass er sich noch in die Angelegenheit anderer einmischen wollte. In Gedanken war er noch einmal alle Möglichkeiten durchgegangen, aber wie schon bei den vorangegangenen Gedankenspielen, kam ihm keine der möglichen Varianten auch nur ansatzweise plausibel vor.

Sobald sich endlich eine kleine Lücke ergab, zwängte er sich hindurch und eilte zum vorderen Eingang der Maschine. Die Tür war bereits geschlossen.

»Sie müssen sich nun auf ihren Platz begeben. Die Maschine ist startklar. Wir werden in wenigen Augenblicken die Parkposition verlassen. Die Toiletten können sie erst nach dem Start benutzen, wenn die Anschnallzeichen erloschen sind«, wurde er von einer Flugbegleiterin abgefangen.

»Nein, nein. Ich will die Toilette nicht benutzen. Ich muss den Flieger verlassen. Und zwar jetzt sofort.«

»Wie bitte?«, entgegnete die Stewardess und schaute Norbert an, als ob er einen schlechten Scherz gerissen hätte.

»Ich muss das Flugzeug sofort wieder verlassen. Ich kann unmöglich mitfliegen«, wiederholte er noch einmal ganz ruhig, wobei seine Stimme dabei leicht vibrierte.

»Das geht nicht. Bitte begeben sie sich jetzt wieder auf ihren Sitzplatz. Wir werden uns gleich um ihr Wohlbefinden kümmern«, versuchte ihn die hübsche, blond-haarige Frau mit einem überaus freundlichen Lächeln zu überreden, zurück zu seinem Sitzplatz zu gehen. Wahrscheinlich glaubte sie, dass er einfach nur einen Anfall von Flugangst hatte.

»Sie verstehen das nicht richtig!«, entgegnete Norbert und hatte dabei alle Mühe, ruhig zu bleiben. »Meine Frau und meine Kinder sind nicht an Bord. Ich muss unbedingt wieder raus!«

»Wo sind denn ihre Frau und ihre Kinder?«

»Ich weiß es nicht! Wenn ich es wüsste, würde ich ja nicht nach ihnen suchen«, platzte es lauter aus ihm heraus, als er es beabsichtigt hatte. Doch er beruhigte sich ganz schnell wieder. »Sie müssten eigentlich hier sein, sind es aber nicht. Die Plätze sind leer. Lassen sie mich jetzt bitte aussteigen.«

»Warten sie bitte!« Die Stewardess war ganz offensichtlich mit der Situation deutlich überfordert. Deshalb griff sie zum Telefonhörer und rief die leitende Flugbegleiterin hinzu.

»Wo liegt das Problem?«, fragte diese, als sie aus dem hinteren Bereich des Flugzeuges herbeigeeilt war. Nachdem Norbert noch einmal kurz und knapp alles vorgetragen hatte, fragte sie skeptisch: »Irgendwie verstehe ich die Zusammenhänge nicht ganz. Wenn es so ist, wie sie es sagen, wieso sind sie dann überhaupt an Bord gekommen und haben nicht bereits beim Check-in geklärt, wo ihre Frau und die Kinder sind? Sie sagten doch, dass sie gemeinsam angereist sind.«

»Ja, das sind wir! Aber ich sagte doch schon, dass mir keiner helfen konnte oder wollte. Kann ich jetzt endlich raus hier? Ich muss meine Familie finden! Irgendwas stinkt hier. Und zwar mächtig gewaltig. Ich weiß nur noch nicht, was es ist.«

Überzeugt hatte Norbert die Stewardess nicht von seiner Geschichte. Aber übelnehmen konnte er es ihr eigentlich auch nicht, denn mit etwas Entfernung betrachtet, mussten seine Aussagen in der Tat recht unreal, ja, regelrecht verrückt klingen.

»Gut, sie warten hier bei Frau Schönberg-Walter«, dabei deutete sie auf ihre junge Kollegin, »und ich werde mit dem Flugkapitän sprechen.«

»Aber ich will doch nur wieder aussteigen«, versuchte er es noch einmal.

»Das habe ich schon verstanden«, entgegnete die Flugbegleiterin, »Aber so einfach ist das nicht. Ohne Genehmigung des Flugkapitäns können wir sie nicht gehen lassen.«

Es dauerte einige Zeit, bis die Stewardess und der Pilot wieder erschienen. Dieser blickte äußerst ernst und musterte Norbert von Kopf bis Fuß.

»Zeigen sie mir bitte ihre Bordkarte und ihre Ausweispapiere«, forderte er freundlich, aber doch distanziert.

Wortlos hielt ihm Norbert sein Handy mit der elektronischen Bordkarte hin. Aufmerksam las der Flugkapitän die Informationen durch.

»Und ihr Ausweis oder Reisepass?«

Für einen Moment zögerte Norbert. Dann schüttelte er den Kopf und blickte auf den Boden.

»Herr Lang. Zeigen sie mir bitte ihren Personalausweis?«, fragte der Pilot mit wachsender Ungeduld.

»Den habe ich nicht bei mir. Der ist mit den restlichen Reisepapieren bei meiner Frau.«

»Nur für mich, damit ich nichts falsch verstanden habe«, entgegnete der Flugkapitän und runzelte dabei seine Stirn. »Sie sind mit ihrer Frau und ihren Kindern zum Flughafen gekommen, haben sich dann aber aus den Augen verloren und sind nun allein an Bord des Flugzeugs, wohlgemerkt ohne Ausweispapiere, aber von ihrer Familie fehlt jede Spur? Und sie wollen nun das Flugzeug wieder verlassen?«

Norbert nickte. So zusammengefasst klang seine Geschichte selbst in seinen Ohren regelrecht an den Haaren herbeigezogen.

»Ich weiß schon, dass es ziemlich abgefahren klingt, aber es ist so. Kann ich jetzt bitte ...«

»Okay, Herr Lang«, unterbrach ihn der Pilot, »Es klingt in der Tat reichlich - ich sag es mal so - eigenartig. Ich kann sie aus Sicherheitsgründen nicht einfach aus dem Flugzeug aussteigen lassen. Zuvor muss ich mich mit der Flugaufsicht abstimmen. Haben sie Gepäck aufgegeben?«

»Nein. Ich habe kein ...«

»Gut. Setzen sie sich bitte für einen Moment hier auf diesen Platz.«

Nachdem Norbert auf einem der Sitze Platz genommen hatte, der eigentlich dem Flugpersonal vorbehalten war, verschwand der Pilot wieder im Cockpit. Die junge Stewardess behielt ihn währenddessen die ganze Zeit im Auge.

»Sehr geehrte Fluggäste. Hier spricht ihr Flugkapitän Mattis Frensch. Unsere Abflugzeit wird sich voraussichtlich um fünfzehn bis zwanzig Minuten verschieben, da ein Passagier die Maschine wieder verlassen muss. Sobald wir die nötige erneute Sicherheitsüberprüfung abgeschlossen haben, werden wir mit den Startvorbereitungen fortfahren ... Dear ladies and gentlemen. This is Mattis Frensch, your flight captain ...«

Geduldig wartete Norbert Lang ab, bis der Pilot seine Durchsage beendet hatte. Unterdessen wurde die Gangway wieder an das Flugzeug herangefahren und die Tür geöffnet. Zwei Beamte der Bundespolizei traten herein.

»Herr Lang? Würden sie uns bitte begleiten?«

»Werde ich jetzt etwa verhaftet?«, protestierte Norbert.

»Sie werden nicht verhaftet. Wir haben jedoch noch einige Fragen an sie. Und falls es bei ihnen Unklarheiten diesbezüglich gibt: Ja, sie sind verpflichtet, mit uns zu kommen und die Fragen zu beantworten.

8:44 Uhr
Terminal 1, Flughafen München

Ohne noch einmal zu widersprechen, folgte Norbert Lang den Beamten. Sollten sie ihn doch ruhig befragen - er hatte sich nichts vorzuwerfen, schließlich hatte er nichts Unrechtes getan.

Sobald die drei Männer die Fluggastbrücke hinter sich gelassen hatten, nahmen die Polizisten ihn in ihre Mitte.

»Wollen sie mir nicht gleich auch noch Handschellen anlegen?«, beschwerte sich Norbert, in dem unangenehme Erinnerungen an die dunkelste Zeit seines Lebens hochkamen. Die Beamten antworteten jedoch nicht auf seine provozierende Frage.

Auf kürzestem Weg verließen sie den Sicherheitsbereich des Flughafens. Wohin sie ihn schaffen wollten, sagten die Polizisten nicht. Aber Norbert konnte sich schon denken, an welchen Ort er gebracht würde. Schließlich war es noch keine zwei Stunden her, dass er bereits schon einmal dort gewesen war.

Plötzlich blieb er wie vom Blitz getroffen stehen. Beinahe traute er seinen Augen nicht. Wie auf einen Geist starrte er die Person an, die direkt auf ihn zukam und nur noch wenige Meter von ihm entfernt war.

»Nun? Hast du etwa Probleme?«, fragte ihn der Fahrer des schwarzen Mercedes, mit dem er heute Morgen aneinandergeraten war. Dabei setzte dieser ein hämisches und schadenfrohes Grinsen auf.

Rechts und links hatten sich zwei hübsche Blondinen bei dem Mann eingehakt, die aussahen, als ob sie gerade vom Laufsteg gesprungen waren. Mit ihren verspiegelten Sonnenbrillen und den knappen Kleidern machten sie den Eindruck, auf dem direkten Weg zum Pool oder zur Strandparty zu sein.

»Du bist auf einmal so allein? Wo hast du denn deine Tussi und deine zwei kleinen Bälger?«, setzte der Mann mit gespieltem Mitleid noch nach. Seine beiden Begleiterinnen kicherten und lachten dazu, als hätte ihr Gönner einen außergewöhnlich guten Witz gerissen.

»Hast du etwas damit zu tun, du Bastard? Was hast du mit meiner Familie gemacht?«, brach es aus Norbert heraus. Noch bevor die beiden Beamten reagieren konnten, stürzte er sich auf den Mann, riss ihn aus der Umklammerung der beiden Frauen und schleuderte ihn mit voller Wucht mit dem Rücken an die Wand. Dieser Angriff kam so unerwartet, dass der Mercedesfahrer gar nicht dazu kam, sich zur Wehr zu setzen. Schnell genug, bevor er sich wieder gefasst hatte, war Norbert bereits zur Stelle, um ihm seinen Unterarm gegen den Hals zu pressen, sodass er sich nicht selbst befreien konnte. Dass die beiden Frauen laut kreischten, war Norbert dabei völlig egal.

»Los! Sag es. Was hast du mit meiner Familie gemacht! Sag es!«

Die beiden Polizisten brachten Norberts Angriff zu einem schnellen Ende, indem sie ihn gewaltsam zurückzogen und den Mann so aus seiner unterlegenen Position befreiten. Norbert sträubte sich zwar dagegen, doch die beiden Beamten waren zusammen schlichtweg stärker als er.

»Hey, man. Der ist ja völlig irre«, ächzte der Andere nach Atem ringend.

»Was hast du mit meiner Familie gemacht? Los! Sag es endlich!«

»Nichts! Was soll ich denn mit deiner Familie gemacht haben? Ich habe keine Ahnung, wovon du da redest!«, verteidigte sich der Mann und zupfte sein seidenes Hemd wieder zurecht. Dabei schaute er Norbert mit einer kaum zu überbietenden Unschuldsmiene an und hob seine Schultern.

»Lügner! Ich glaube dir kein einziges Wort! Du hast ...«, rief Norbert und wollte sich erneut auf ihn werfen, doch diesmal waren die Polizisten zur Stelle und verhinderten den Angriff.

»Herr Lang! Sie beruhigen sich bitte!«

»Beruhigen? Der hat wahrscheinlich meine Familie entführt und ich soll mich beruhigen?«

»Was redet dieser Mann für einen gequirrlten Unsinn?«, fragte der Beschuldigte zurück. »Ich bin mit Lara und Juliette auf dem Weg nach New York. Wir wollen ein bisschen shoppen gehen. Sie verstehen schon. Und noch einmal: Ich habe keine Ahnung, wovon dieser Typ redet.«

»Wollen sie Anzeige gegen Herrn Lang erstatten?«, fragte einer der Polizisten.

»Was? Haben sich heute alle gegen mich verschworen? Dieser Typ hat ganz bestimmt etwas mit dem Verschwinden meiner Familie zu tun. Sie haben doch gehört, was er gesagt hat. Und wie er dabei hämisch gelacht hat!«

»Es reicht, Herr Lang. Sie haben jetzt erst einmal Sendepause. Sie dürfen sich dann gleich zu der Angelegenheit äußern.«

»Aber ...«

»'Sendepause' hatte ich gesagt!«, unterbrach der Polizist Norberts Versuch, noch etwas zu sagen. An den anderen Mann gewandt, setzte er fort.

»Herr ...«

»Glocklhufer. Alois Johann Sepp von Glocklhufer.«

»Gut, Herr von Glocklhufer. Noch einmal meine Frage. Wollen sie Herrn Lang wegen der Tätlichkeit zur Anzeige bringen?«, fragte der Polizist ein zweites Mal.

Von Glocklhufer blickte erst den Polizisten und dann Norbert Lang an. Ein breites Lächeln, das fast schon wie eine Clownsgrimasse wirkte, zog sich über sein Gesicht.

»Aber nein! Ich bin doch nicht nachtragend. Und es ist ja auch nichts Schlimmes passiert. Bestimmt hat Herr Lang heute einfach nur einen schlechten Tag.«

Da die Polizisten keine weiteren Fragen hatten, konnte Alois von Glocklhufer weitergehen. Die beiden jungen Blondinen hakten sich wieder bei ihm unter und kichernd entfernten sie sich.

»Wenn du etwas damit zu tun hast, dann ...«, rief Norbert ihm noch hinterher, hielt dann doch besser inne, um sich nicht durch eine ausgesprochene Drohung in Gegenwart der Polizisten noch mehr Probleme zu schaffen.

»Sie können den doch nicht einfach gehen lassen!«, protestierte Norbert jedoch noch einmal.

»Ja, und was sollten wir ihrer Meinung nach tun? Sollen wir ihn vielleicht einfach verhaften, weil ihnen sein Gesicht nicht passt? Es gibt nicht die Spur eines Beweises ihrer Anschuldigungen. Und ganz ehrlich: So richtig glaubhaft kommen sie momentan nicht rüber. Kommen sie jetzt!«, entgegnete der Beamte.

8:56 Uhr
Wachzimmer der Bundespolizei, Flughafen München

Zum wiederholten Mal musste Norbert Lang alles erzählen. Die Sicherheitskräfte hörten ihm aufmerksam zu und stellten ihm immer wieder Fragen. Zum Glück hatte er wenigstens seinen Führerschein dabei, um seine Identität nachzuweisen.

Inzwischen waren auch die Passagierlisten von der Fluggesellschaft angefordert worden.

»Auf der Liste stehen zwar ihre Frau und ihre Kinder drauf, aber sie haben den Flug nicht angetreten.«

»Ich habe ihnen ja gesagt, dass sie nicht im Flugzeug waren«, antwortete Norbert.

»Ja, aber hier steht, dass die drei Flüge annulliert wurden.«

»Und was heißt das?«

»Das heißt, dass die drei Flüge abgesagt wurden«, antwortete der Beamte trocken.

»Das kann nicht sein! Wer soll die Flüge denn abgesagt haben?«

»Das kann ich nicht sagen. Es tut mir leid, es ihnen sagen zu müssen, aber für mich sieht es ganz so aus, dass es sich ihre Frau wahrscheinlich anders überlegt hat und mit den Kindern vom Flughafen abgereist ist. Glauben sie mir, so eigenartig, wie es für sie im Moment klingen mag, ist es gar nicht. Sie sind ganz sicher auch nicht der Erste, dem das passiert ist.«

»Oh nein, das glaube ich nicht. Wir haben uns so auf diesen Urlaub gefreut. Auch und ganz besonders Sariah! Außerdem ... womit hätte sie denn abreisen sollen? Mit dem Auto war ich unterwegs. Abgesehen davon pflegen wir eine sehr offene Beziehung. Also nicht, was sie vielleicht denken! Was ich meine, ist, dass sie es einfach gesagt hätte, wenn sie keine Lust mehr auf die Reise verspürt hätte.«

»Herr Lang. Ich habe ihnen nur gesagt, wonach es aussieht.«

»Aber es gibt im Flughafen doch sicher Überwachungskameras. Damit müsste sich doch ganz einfach aufklären lassen, was passiert ist!«

»Herr Lang. Nichts weist im Moment darauf hin, dass überhaupt etwas passiert ist. Ich denke nicht, dass es angemessen wäre, massenhaft Aufzeichnungen von Überwachungskameras zu durchsuchen. Haben sie überhaupt eine Vorstellung, was das für ein Aufwand wäre?«

»Aufwand? Geht es immer nur darum? Muss erst ein Toter im Foyer liegen, bevor sie den Aufwand für gerechtfertigt halten?«, fragte Norbert frustriert.

»Herr Lang. Ich bitte sie! Ich habe ihnen doch gerade gesagt, wonach es ganz offensichtlich aussieht. Solange es keine Hinweise für irgendetwas gibt, werden wir sicher nicht den ganzen Flughafenbetrieb auf den Kopf stellen.«

Plötzlich summte Norberts Telefon als Zeichen dafür, dass eine SMS eingegangen war. Sofort zog er das Smartphone aus der Tasche. Die eingegangene Nachricht stammte von einer unbekannten Nummer.

'Verschwinde! ASAP'

»Ist es eine Nachricht von ihrer Frau?«, fragte der Beamte nach, der sehr wohl mitbekommen hatte, dass Norbert auf sein Telefon schaute.

»Nein, nein. Nur von einem Freund«, log er, löschte die Nachricht kurzerhand und steckte das Smartphone zurück in seine Tasche. Irgendetwas stimmte nicht. Nun hatte er den Beweis. Doch von wem stammte diese ominöse SMS? Warum sollte er von hier verschwinden? Und was hatte es mit seiner Familie zu tun?

Den Sicherheitsbeamten traute er im Moment überhaupt nicht. Schließlich hatten sie den Typen von heute Morgen einfach laufen lassen und sogar noch gefragt, ob er Norbert anzeigen wollte. Von ihnen erwartete er keine wirkliche Hilfe. Denen ging es nur darum, keinen Aufwand zu haben.

»Okay. Kann ich nun nach Hause fahren? Vielleicht taucht Sariah ja tatsächlich dort auf.«

Da die Polizisten bereits anhand von Norberts Führerschein dessen Identität überprüft und keine weiteren Fragen hatten, ließen sie ihn gehen. Etwas mitleidig schaute der Beamte ihm hinterher.

9:02 Uhr
Terminal 1, Flughafen München

Sobald Norbert das Wachzimmer verlassen hatte, suchte er nach einem Ort, wo er ungestört war. Die ganze Eingangshalle war mit Menschen gefüllt. Hier einen ruhigen Platz zu finden, war schlichtweg unmöglich. Deshalb lief er die Treppe nach unten, über welche die Fluggäste zu den Abflug-Gates gelangten. In einer Nische neben dem Fahrstuhl lehnte er sich an die kühle Wand und zog sein Telefon heraus.

Eine Weile starrte er schwer atmend auf die unbekannte Telefonnummer. Sein Finger schwebte schon Sekunden nur wenige Millimeter über dem Rufbutton, aber etwas hielt ihn ab, die grüne Schaltfläche zu drücken.

Einerseits wollte er unbedingt wissen, wer ihm die SMS geschickt hatte, anderseits fürchtete er sich aber auch davor, etwas Unangenehmes herauszubekommen. Nach endlos langen Sekunden und einem harten Kampf gegen sämtliche Muskeln seines Körpers berührte sein Finger schließlich doch den Bildschirm des Smartphones.

Mit klopfendem Herz lauschte er in das Telefon. Stille. Dann begann es zu klingeln. Doch niemand hob ab. Schließlich, nach dem fünften Klingeln, antwortete die Mailbox. Aber mehr Informationen über den Eigentümer der Nummer erhielt er dadurch auch nicht. Noch vor dem Piepton legte Norbert wieder auf.

Sofort wählte er erneut, aber das Ergebnis war das Gleiche. Nach drei weiteren Versuchen fasste er sich ein Herz und wartete den Piep ab.

»Wer bist du? Und wo ist meine Familie?«, hauchte er ins Mikrofon und legte gleich wieder auf.

Erschöpft von der ganzen Aufregung, setzte sich Norbert auf eine freie Bank, lehnte sich mit dem Kopf an die Wand und schloss seine Augen. Irgendwie fühlte er sich hilflos und allein gelassen. Außerdem geisterten die Aussagen des Polizisten immer wieder durch seinen Kopf. Trotzdem hielt er es für völlig ausgeschlossen, dass Sariah so ein übles Spiel mit ihm treiben würde. Nicht nach allem, was sie gemeinsam in den letzten Jahren durchlebt und durchlitten hatten. Oder vielleicht doch? Gerade deswegen?

»Norbert? Bist du das? Mann, ich glaube es nicht! Ich dachte, ihr seid im Flieger nach Ibiza?«

Norbert Lang war, als er seinen Namen hörte, so plötzlich aufgesprungen, dass ihm für einen Moment schwarz vor Augen wurde und er taumelnd nach etwas suchte, woran er sich festhalten konnte. Aber sein Schwager war schon zur Stelle und stützte ihn.

»Ist bei dir alles in Ordnung? Du siehst ... ich sag's mal vorsichtig ... beschissen aus.«

»Danke auch«, antwortete Norbert und schaute Franz Haper, den Bruder seiner Frau, mit großen Augen an. »Was machst du denn hier?«

»Was ich hier mache?«, fragte dieser zurück und schaute Norbert prüfend an. »Ich war zufällig gerade in München, als ich euch vorhin angerufen hatte. Du klangst am Telefon aber reichlich komisch, sodass ich mir Sorgen gemacht habe, dass irgendwas nicht stimmt. Und ganz so falsch habe ich ja wohl nicht gelegen, wenn ich dich hier so ansehe. Oder? Wo ist eigentlich Sariah?«

Nun war Norbert doch genau in die Situation hineingeraten, die er eigentlich unbedingt vermeiden wollte. Franz hatte so eine kontrollierende Art an sich, die er überhaupt nicht leiden konnte. In seiner Gegenwart überkam Norbert oft das ungute Gefühl, fremdgesteuert und nicht mehr Herr der Lage zu sein. Doch wenn er ehrlich zu sich war, dann war er das schon seit Stunden nicht mehr.

»Was ist los mit dir? Mit euch? Wo ist Sariah? Wo sind die Kinder? Ist alles in Ordnung?«, bohrte Franz nach, da Norbert nicht sofort auf seine Frage antwortete.

»Nichts ist in Ordnung!«, gab Norbert mit gesenktem Blick zu.

»Was ist denn los? Komm! Erzähl schon!«, forderte Franz ungeduldig, als sein Schwager von allein nicht sofort etwas sagte.

Schließlich begann Norbert, alles zu erzählen: Von der Auseinandersetzung auf der Straße mit dem Mercedesfahrer, dem letzten Telefonat mit Sariah, seiner Suche in den Toiletten und im gesamten Terminal und schließlich sogar im Flugzeug. Selbst das Gespräch mit dem Polizisten und die ominöse SMS sparte er nicht aus. Geduldig, schweigend und mit ernstem Gesichtsausdruck hörte sein Schwager zu.

»Und? Hast du ihn bei dir?«, fragte Franz, nachdem Norbert mit seiner Erzählung zum Ende gekommen war.

»He? Was? Was meinst du?« Norbert runzelte die Stirn und blickte den Bruder seiner Schwester verstört an. Wovon sprach dieser?

»Du hast doch gerade erzählt, dass Sariah von dir wollte, dass du irgendeinen Umschlag aus dem Auto mitbringst. Wo hast du ihn?«

Norbert blickte nur noch verwirrter. Wieso interessierte sich nun plötzlich auch sein Schwager für diesen Brief?

»Was willst du denn jetzt plötzlich mit diesem Umschlag?«, fragte er verstört.

»Ich? Was soll ich damit wollen? Nein, ich dachte nur, dass der Umschlag vielleicht irgendeinen Hinweis geben könnte. Und wenn du alles andere schon überprüft hast, wäre das möglicherweise zumindest ein Anfang.«

»Du glaubst mir also?«

»Natürlich glaube ich dir. Warum sollte ich nicht? Ich kenne dich. Und ich kenne doch auch Sariah. Dass sie sich einfach in ein Taxi oder Leihwagen setzen und mir-nichts-dir-nichts davonfahren würde, passt nicht zu ihr. Nein, überhaupt nicht! Lass mal schauen ...«, antwortete Franz und blickte auf seine Uhr, »... Ich bin zwar nur auf der Durchreise, aber eine oder zwei Stunden Zeitpuffer habe ich schon noch. Am besten fahren wir gleich zu deinem Auto und schauen nach dem Umschlag. Vielleicht enthält er ja wirklich brauchbare Hinweise.«

»Jetzt gleich?«, fragte Norbert noch einmal nach.

»Hast du eine bessere Idee?«

»Nein. Okay. Lass uns fahren!«

Aus irgendeinem Grund hatte er das undefinierbare Gefühl, ein wichtiges Detail bisher übersehen zu haben. Aber so sehr er seinen Kopf auch anstrengte, ihm fiel im Moment nichts ein. Auch, wenn er den Flughafen lieber nicht verlassen hätte, folgte er Franz zum Ausgang.

Die Strecke bis zu dem Dorf, in welchem sich der Parkplatz befand, verbrachten sie schweigend. Franz fuhr, ohne sich an die reichlich vorhandenen Geschwindigkeitsbeschränkungen zu halten, und starrte dabei verbissen auf die Fahrbahn. Auch Norbert zog es vor, nichts zu sagen. Die Gedanken in seinem Kopf drehten sich nur noch. Inzwischen war er aber ganz froh darüber, dass Franz ihm half.

Wieder und wieder schaute er auf sein Telefon, doch noch immer war keine neue Nachricht eingegangen. Geduld zu üben, gehörte ganz sicher nicht zu seinen Stärken.

Das Tor zum Parkplatz stand offen, als sie ankamen, aber weit und breit war niemand zu sehen. Auch der Shuttlebus stand nicht in der Einfahrt. Franz hatte seinen Wagen noch nicht ganz gestoppt, als Norbert schon die Tür aufriss und heraussprang.

»Das kann doch ... das kann doch nicht wahr sein!«, rief er und rannte durch das offene Tor.

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