• Airport - Gegen die Zeit

    Der neue Thriller von Steeve M. Meyner

  • Airport - Gegen die Zeit

    Wie weit würdest Du gehen, um Deine Familie zu retten?

  • Airport - Gegen die Zeit

    Wem würdest Du trauen, wenn Dir keiner glaubt?

  • Airport - Gegen die Zeit

    Was würdest Du tun, wenn plötzlich alles von Dir abhängt?

Kapitel 2

5:27 Uhr
Einfahrt zum Parkplatz, Freising

Für die Strecke bis zu dem Parkplatz, welchen Norbert Lang über das Internet gebucht hatte, brauchte er nur knapp zehn Minuten. Als er auf das Gelände einfuhr, war der Parkplatz durch ein Gittertor verschlossen und niemand erwartete ihn, wie es in der E-Mail gestanden hatte. Aber es war ja auch noch nicht ganz fünf Uhr dreißig, wie sie es vereinbart hatten.

Auf dem Weg hierher hatte Norbert jedes einzelne Auto, welches er überholte, welches an ihm vorbeifuhr oder ihm entgegenkam, ganz genau angeschaut. Den schwarzen Mercedes hatte er nicht noch einmal zu Gesicht bekommen. Und eigentlich war er auch froh darüber.

Für einen kurzen Augenblick schloss Norbert seine Augen. Ganz ruhig atmend versuchte er, den rüden Fahrer aus seinem Kopf herauszubekommen. Doch so leicht, wie es ihm seine Psychologin in der letzten Zeit oft gesagt hatte, war das nicht. Wenigstens war es ihm bisher gelungen, die Kontrolle über sich zu behalten. Auch das war nicht ganz einfach gewesen.

Langsam wanderten die gerade durchlebten Erfahrungen doch ein klein wenig in die Dunkelheit, als Norbert durch sein vibrierendes Telefon zurück in die Gegenwart katapultiert wurde. Etwas benommen zog er es aus seiner Hosentasche. Auf dem Display leuchtete das Bild von Sariah. Einen Moment betrachtete er ihr hübsches Lächeln, welches er so sehr an ihr liebte, bevor er den Anruf annahm.

»Ja, Schatz? Was ist? Ist alles okay?«

»Bist du schon angekommen?« Ihre Stimme klang etwas besorgt.

»Ja, aber es ist noch keiner da. Ich sitze da und muss mich gedulden, bis endlich jemand kommt. Aber was ist los?«, antwortete er. Am liebsten hätte er gleich noch etwas auf den Parkplatzbetreiber geschimpft, der ihn hier so unverschämt warten ließ. Doch er wusste nur zu gut, dass Sariah das nicht gut finden würde. Und Norbert hatte sich fest vorgenommen, das Versprechen zu halten, welches er ihr gegeben hatte.

»Hast du das Auto also noch nicht abgegeben?«, fragte sie noch einmal nach.

»Nein. Natürlich nicht! Wie auch? Es ist ja keiner da!«

»Die kommen sicher gleich«, beruhigte ihn seine Frau. Ohne Frage hatte sie die Aufregung in seiner Stimme wahrgenommen.

»Ich habe etwas Wichtiges im Auto vergessen«, fügte sie hinzu.

»Was denn?«

»Vorn in der Ablage muss ein Umschlag liegen. Kannst du den bitte unbedingt noch mitbringen?«

»Was denn für einen Umschlag?«, wunderte sich Norbert, während er das Handschuhfach öffnete und nach einem Brief durchsuchte.

»Hast du ihn gefunden?«, fragte Sariah ihren Mann, ohne jedoch auf dessen Frage einzugehen.

»Da ist kein Umschlag.«

»Aber er muss da sein!«

»Hier ist keiner! Ich verstehe es sowieso nicht. Was soll das denn für ein Brief sein, Sariah?«

»Hast du schon in dem Fach in der Tür nachgeschaut?«, ließ sie noch immer nicht locker.

»Das sehe ich von hier aus nicht. Da muss ich erst aussteigen. Aber du hast mir nicht auf meine Frage geantwortet!«

»Das erkläre ich dir später, Schatz. Denk an das, was ich dir heute Morgen gegeben habe und bring den Umschlag bitte unbedingt mit. Ich mach jetzt erst einmal Schluss. Ich muss mich um Maurin kümmern. Bis gleich.« Mit diesen Worten legte sie auf.

»Sariah? Was soll denn das?«, rief Norbert in sein Telefon, obwohl die Verbindung bereits getrennt war. Er konnte sich nicht im geringsten daran erinnern, was sie ihm am Morgen gegeben haben könnte. Genauso unklar war die Geschichte mit dem mysteriösen Umschlag, von dem sie nicht einmal sagen wollte, was er enthielt. Einen Moment lang wollte er Sariah gleich noch einmal zurückrufen. Doch dann entschied er sich, lieber tief durchzuatmen und sich etwas in Geduld zu üben.

Gerade, als er ausstieg, um nach dem Umschlag zu schauen, bog ein weißer VW-Bus rasant in die Einfahrt ein. Nur knapp hinter ihm kam er zum Stehen. Am Steuer saß eine junge Frau mit kurzen, strohblonden Haaren, die wild in alle Richtungen standen. In den Ohren, aber auch in der Lippe und der Nase, trug sie mehrere auffällige Piercings. Dazu kamen noch zahlreiche Tattoos, die Arme, Beine und selbst ihr Dekolleté und ihren Hals wie Schlingpflanzen überwucherten. Schon auf den ersten Blick wusste Norbert, dass er diese Frau nicht wirklich würde leiden können.

»Sorry für die Verspätung«, sprach sie ihn sofort an, als sie aus dem Bus gesprungen war, und entschuldigte sich, obwohl sie eigentlich nur fünf Minuten später als vereinbart da war. »Die andere Gruppe war etwas spät dran. Aber jetzt bist du dran. Ich bin Maria. Und du bist bestimmt Norbert Lang, Flug nach Ibiza? Ja? Hast du deine Buchungsbestätigung dabei?«

Überrascht von ihrer Freundlichkeit und Herzlichkeit war Norbert erst einmal sprachlos. Schweigend nickte er nur und reichte ihr den Ausdruck.

»Hast du den Betrag passend?«, fragte sie weiter, nachdem sie den Zettel überflogen hatte.

»Klar!«, antwortete er noch immer wortkarg und reichte ihr die fünfundsechzig Euro.

»Du kannst dein Auto gleich da vorne parken, wenn ich das Tor aufgemacht habe, und bringst mir dann den Schlüssel rein«, sagte sie auf einen freien Parkplatz deutend, während sie das Gittertor und dann die Tür zu dem Büro aufschloss, welches sich in einem etwas vom Wetter und Alter gezeichneten Bürocontainer befand.

Schon fünf Minuten später waren sie auf dem Rückweg zum Flughafen, nachdem Maria den Papierkram erledigt und den Schlüssel von Norberts Auto im Tresor verwahrt hatte.

»Und? Geht es ab in den Urlaub?«, versuchte sie ein Gespräch zu beginnen. Dabei blickte sie ihn neugierig von der Seite an, anstatt auf die Straße zu schauen.

Außer einem mürrischen 'Ja' gab er keine Antwort. Eigentlich verspürte Norbert nicht die geringste Lust, ein Gespräch mit der jungen Frau zu führen. Auf ihre Frage gar nicht zu antworten, kam ihm dann doch zu unhöflich vor.

»Allein?«

»Wie? Was?« In Gedanken war er gerade ganz woanders gewesen. Zum wiederholten Male flogen die Bilder von der Auseinandersetzung durch seinen Kopf.

»Ob du allein fliegst?«, wiederholte sie ihre Frage.

Wieso fragte sie ihn das? Was ging sie das an? Warum konnte sie ihm nicht einfach seine Ruhe lassen?

»Nein«, murmelte er missmutig, ohne die junge Frau dabei anzusehen. Aus den Augenwinkeln sah er, dass sie ihn noch immer anschaute, während sie mit über einhundertvierzig Kilometern in der Stunde über die inzwischen schon recht dicht befahrene Autobahn raste. Plötzlich wechselte vor ihnen ein Transporter die Fahrspur.

»Pass doch auf!«, rief er ihr zu, als sie einen hastigen Schlenker machte, um nicht mit dem anderen Fahrzeug zu kollidieren.

»Ganz ruhig! Ich habe die Sache unter Kontrolle«, antwortete sie lachend, ohne den Fuß vom Gas zu nehmen.

»Das hab ich gesehen«, entgegnete er reserviert und drehte seinen Kopf demonstrativ zur Seite. Den Rest der Fahrt herrschte zwischen beiden völlige Funkstille.

Nur wenige Minuten später hatten sie den Flughafen erreicht und Norbert sprang erleichtert aus dem Bus auf die Straße. Ohne viele Worte verabschiedete er sich und wollte gerade zum Eingang des Terminals laufen, als ihm der Umschlag wieder einfiel, den er mitbringen sollte. In der ganzen Aufregung hatte er noch nicht einmal in der Seitentür nachgeschaut.

»Stopp! Halt! Hey, du musst noch einmal zurückkommen! So ein ...« Obwohl Norbert laut gerufen hatte, hörte Maria offensichtlich nichts davon, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als den Rücklichtern des VW-Busses hinterherzuschauen, bis er um die nächste Kurve bog.

Wütend trat Norbert mit seinem Fuß gegen einen der Absperrpfosten aus Metall. Der stechende Schmerz, mit dem seine große Zehe die Sinnlosigkeit dieser Aktion quittierte, stoppte die Wutattacke abrupt. Etwas hinkend machte er sich auf den Weg ins Terminal, um nun endlich die Urlaubsreise zu beginnen. Sariah würde schon irgendwie Verständnis dafür haben, dass er den Umschlag nicht mitgebracht hatte.

5:58 Uhr
Terminal 1, Flughafen München

Der Eingangsbereich des Flughafens war schon gefüllt mit Reisenden. Solche Ansammlungen von Menschenmassen waren Norbert Lang eigentlich zuwider. Nicht ohne Grund waren sie von der Stadt aufs Land gezogen. Seit nunmehr acht Jahren wohnten sie am Rande einer kleinen, idyllischen Ortschaft in der Nähe von Nürnberg, wo er Arbeit in einem kleinen Softwareentwicklungsunternehmen gefunden hatte.

Sariahs Bruder, Franz Haper, hatte ihm den Job vermittelt, nachdem er aus dem Gefängnis entlassen worden war, wo er eine einjährige Haftstrafe absitzen musste. Es war ein absoluter Neuanfang für Norbert. Nein, ein Krimineller war er nie gewesen. Noch heute schnürte sich in ihm alles zusammen, wenn er daran dachte, wie es dazu gekommen war. Er, ein studierter Informatiker und verheirateter Vater war von einem Moment auf den anderen zum Straftäter geworden.

Ihr Leben verlief damals eigentlich in geordneten Bahnen. Sie waren bereits seit fünf Jahren verheiratet und ihre Tochter, Mirabella, war gerade in den Kindergarten gekommen. Norbert hatte sein Studium abgeschlossen und auch einen ganz guten Job bei einer renommierten Softwareschmiede gefunden.

Der Beginn für den tragischen Wendepunkt in seinem Leben war ein eigentlich belangloser Streit mit Sariah gewesen. Er konnte sich inzwischen noch nicht einmal mehr daran erinnern, worum es dabei eigentlich ging.

Aus irgendeinem Grund war der Streit jedoch eskaliert. Infolgedessen hatte Norbert die Kontrolle über sich verloren und die Wohnungstür demoliert. Anschließend war er wütend mit dem Auto davongefahren, doch weit kam er nicht. Schon auf der übernächsten Straße endete seine rasante Fahrt. Er kam in einer Kurve mit über einhundertzwanzig Kilometern in der Stunde - und das innerhalb der Ortschaft - von seiner Seite der Fahrbahn ab, als er für einen Moment auf sein ununterbrochen klingelndes Telefon schaute.

Erst viel zu spät bemerkte er das ihm entgegenkommende Fahrzeug. Obwohl er es zwar noch versuchte, konnte er die Kollision nicht verhindern. Frontal rasten die Fahrzeuge ineinander. Sein alter Audi 80 überstand den Unfall zwar recht gut, doch von dem getroffenen Kleinwagen blieb nicht viel übrig. Der fast achtzig-jährige Rentner, welcher den Wagen lenkte, war sofort tot und seine nicht viel jüngere Frau verstarb ebenfalls noch auf dem Weg ins Krankenhaus.

Norbert selbst war nur relativ leicht verletzt worden, zumindest körperlich. Ein paar Schrammen, Schnittwunden und ein gebrochenes Bein waren alles, was er davongetragen hatte. Doch die Last, zwei unschuldige Menschen auf dem Gewissen zu haben, war fast schwerer, als er sich in der Lage fühlte, ertragen zu können.

Infolgedessen war er wegen fahrlässiger Tötung zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Ausschlaggebend für das überaus harte Urteil war unter anderem auch die demolierte Wohnungstür gewesen, sodass der Richter meinte, einen gewissen Vorsatz im Übertreten der Verkehrsregeln zu erkennen. Nach einem unendlich langen Jahr im Gefängnis wurde seine restliche Haftstrafe wegen guter Führung zur Bewährung ausgesetzt. Das war seine Vergangenheit - leider nicht mehr zu ändern, aber eben doch vergangen!

Der Lärm des Flughafens holte Norbert aus seinen trüben Gedanken zurück. Eigentlich wollte er ja auch gar nicht mehr daran denken, doch die heutigen Erlebnisse beförderten die Erinnerung plötzlich wieder nach oben.

Auf direkter Linie bahnte er sich seinen Weg durch die vielen kreuz und quer laufenden Menschen zu der Stelle, wo er Sariah mit dem Gepäck und den Kindern vor knapp einer dreiviertel Stunde zurückgelassen hatte. Dabei musste er noch immer etwas gemächlich laufen, da der Schmerz in seiner Zehe nur langsam nachließ.

Sariah und die Kinder waren nirgends zu sehen. Auch von den Koffern fehlte jede Spur. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass sie noch fast zweieinhalb Stunden Zeit bis zum Abflug hatten. Obwohl er solche Überraschungen überhaupt nicht leiden konnte, versuchte er etwas zu lächeln, bevor er zum Telefon griff und Sariahs Nummer wählte. Die Therapie seiner Psychotherapeutin schien also doch etwas bewirkt zu haben.

»Der Teilnehmer ist zurzeit nicht zu erreichen. Bitte hinterlassen sie eine Nachricht nach dem Signalton« Norbert legte auf. Mit Maschinen - und zu denen gehörten zweifelsohne auch Anrufbeantworter - redete er aus Prinzip nicht. Das Telefon hatte er so lange klingeln lassen, bis die nette Computerstimme von Sariahs Mailbox herangegangen war.

Das flüchtige Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. Sofort drückte er auf die Wahlwiederholung seines Smartphones, doch das Ergebnis war das Gleiche. Wieder antwortete ihm nur die nette Computerstimme.

Eine leichte Unruhe erfasste Norbert. Warum war seine Frau mit den Kindern nicht hier, wie sie es vereinbart hatten?

Zum Glück war er groß genug, um trotz der vielen Menschen den Überblick zu behalten. Langsam blickte er sich um und scannte mit seinen Augen die ganze Eingangshalle. Ohne Erfolg! Er entdeckte weder die grüne Jacke seiner Frau noch irgendeinen seiner Sprösslinge.

Das Wahrscheinlichste war sicherlich, dass die Kinder das dringende Verlangen nach etwas hatten, was sie gewöhnlich auf Reisen ständig brauchten - eine Toilette. Selbst kurze Autofahrten mussten sie schon unterbrechen, weil eines ihrer Kinder ein dringendes und vor allem unaufschiebbares Verlangen lautstark kundtat.

Von seinem Standpunkt aus konnte Norbert drei Sanitäranlagen erkennen. Da das die einzig logische Erklärung dafür sein konnte, dass sie nicht, wie vereinbart, auf ihn gewartet hatten, lief er sofort los. Das nächstliegende WC war nur gut zwanzig Meter von ihm entfernt.

An der Toilette angekommen, sah er sich mit einem Problem konfrontiert. Bei den Herren waren erwartungsgemäß weder seine Frau noch seine Kinder. Da er nicht einfach in die Damentoilette gehen konnte, postierte er sich vor deren Eingang, sodass er immer dann, wenn eine Frau hineinging oder herauskam, einen kurzen Blick ins Innere werfen konnte.

Aber nach allem, was er erkennen konnte, befand sich seine Familie nicht hier.

»Entschuldigen sie bitte«, sprach er schließlich eine Frau an, die gerade aus der Tür heraustrat, »Ist da drin eine Frau, Anfang dreißig, mit zwei Kindern?«

Außer einem Schulterzucken und irgendetwas in einer slawisch klingenden Sprache, was er aber nicht verstand, bekam er keine befriedigende Antwort.

Da keine weitere Frau auftauchte, die er hätte fragen können, öffnete er kurzerhand selbst die Tür und trat in die Frauentoilette. Norbert hatte noch keinen ganzen Schritt ins Innere gesetzt, als sich ihm auch schon eine ältere Dame, die gerade das WC verlassen wollte, in den Weg stellte, und sofort anfing zu schreien.

»Ist ja gut«, versuchte er sie sofort zu beruhigen, »Ich wollte nur schauen, ob ...«

»Sie wollen hier überhaupt nichts schauen, junger Mann. Das ist die Damentoilette«, entgegnete sie bissig, ohne ihn aussprechen zu lassen. »Machen sie, dass sie hier rauskommen!«

»Sie verstehen mich falsch«, machte er einen zweiten Versuch, doch wieder kam er nicht dazu, auszureden.

»Nein, ich verstehe sie ganz sicher nicht falsch. Verschwinden sie sofort, oder ich alarmiere die Flughafenaufsicht, sie ... sie ...«

Empört über Norbert Langs Widerspruch nahm sie ihre Handtasche und jagte ihn damit aus der Tür. An einer Erklärung für sein Verhalten war sie nicht interessiert.

»Ist ja gut ...«, sagte er und zog sich zurück. Das 'du alte Schachtel', was ihm bereits auf der Zunge lag, verkniff er sich lieber, um die Situation nicht noch weiter anzuheizen.

Außerdem hatte er sowieso genug gesehen. Hier war seine Familie nicht. Ohne lange zu warten, lief er zur nächsten Toilette, die sich auf der anderen Seite der Halle befand.

Vor der Tür stand der Servicewagen der Reinigungskräfte und ein Klappschild wies darauf hin, dass die Anlagen im Moment gesperrt waren. Um sicher zu sein, dass sich Sariah mit den Kindern tatsächlich nicht hier befand, ignorierte er die Sperrung und öffnete die Tür zur Frauentoilette. Eine farbige Frau mit langen, zu dünnen Zöpfen geflochtenen Haaren, war mit dem Rücken zu ihm gerade dabei, den gefliesten Fußboden zu wischen.

»Bitte nutzen sie eine andere Toilette. Wir reinigen gerade«, rief sie ihm zu, ohne sich umzudrehen und ihre Arbeit zu unterbrechen.

»Ich wollte nur schauen, ob meine Frau mit den Kindern hier ist«, entschuldigte sich Norbert. Seine Besorgnis war deutlich zu hören.

»Nein, das sind sie ganz offensichtlich nicht«, entgegnete die Frau und unterbrach nun doch ihre Arbeit, »Sie wissen aber, dass sie sich hier auf dem Frauenklo befinden?«

Die Frau musste so um die fünfundzwanzig Jahre alt sein. Ihre Augen leuchteten freundlich und ein breites Lächeln zog sich über ihr ganzes Gesicht.

»Klar, es bringt mir ja nichts, bei den Männern nach meiner Frau zu suchen, oder? Nein, mal im Ernst! Haben sie eine Frau in meinem Alter mit einem elfjährigen Mädchen und einem sechsjährigen Jungen gesehen? Mit drei Koffern?«

»Nee. Zumindest nicht hier in der Toilette. Draußen laufen ständig Frauen mit Kindern und Koffern herum. Da achte ich nicht auf Einzelheiten.«

»Ich verstehe. Trotzdem vielen Dank.«

Als Norbert aus der Toilette heraustrat, lief nur wenige Meter von ihm entfernt die alte Frau vorbei, die ihn vor wenigen Minuten aus der anderen Damentoilette herausgeworfen hatte. Seine Hoffnung, dass sie ihn vielleicht nicht bemerken würde, erwies sich als unbegründet. Mit giftigem Blick schaute sie ihn an.

»Sie? Sie schon wieder, sie ...«, giftete sie gleich los, als sie gewahr wurde, dass er soeben wieder aus einem Frauen-WC herauskam.

»Ach, lass mich doch in Ruhe!«, murmelte Norbert leise vor sich hin und ließ die empörte Frau mit halb offenem Mund einfach stehen. Sein Ziel war die Sanitäranlage am hinteren Ende der Eingangshalle.

6:17 Uhr
Terminal 1, Flughafen München

So schnell es ihm trotz der anderen Reisenden möglich war, eilte Norbert durch das Flughafengebäude. Vor der Toilette tummelte sich eine Gruppe Japanerinnen, die scheinbar alle gleichzeitig ihrem dringenden Bedürfnis nachgeben mussten. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

Eine schnelle Überprüfung der Seite der Männer brachte das erwartete Resultat. Dort war natürlich nichts von seiner Familie zu sehen gewesen. Wie auch?

Einen Blick in die andere Toilette zu werfen, war hingegen deutlich schwieriger. Da die Meisten der Japanerinnen sich dazu entschlossen, die Toilette genau jetzt und auch noch zur gleichen Zeit zu benutzen, hatte sich eine lange Schlange gebildet, die bis nach draußen vor die Tür reichte.

Norberts Geduld war am Ende. Er musste wissen, ob seine Familie da drin war. Und er musste es jetzt wissen. Jetzt sofort! Der Versuch, den Frauen zu erklären, was er wollte, scheiterte bereits daran, dass die Japanerinnen kein oder zumindest nur sehr wenig Englisch beherrschten. Deshalb ging er einfach schnurstracks an der restlichen Schlange vorbei und öffnete die Tür. Fürs Erste blieb die eigentlich schon erwartete Empörung der Frauen aus.

Im Inneren herrschte ein reges Chaos. Norbert brauchte einen Moment, um sich zu vergewissern, dass sich unter den wild durcheinander wuselnden Frauen weder Sariah noch eines der Kinder befand.

Ein kurzer, hysterischer Schrei einer kleinen, extrem dünnen Frau, die gerade aus einer der Toiletten in den Waschraum trat und ihm dabei direkt ins Gesicht schaute, hatte ungefähr den gleichen Effekt, als ob jemand mit einem spitzen Stock in ein Wespennest stechen würde. Wie vor einer unsichtbaren Gefahr flüchtend, rannten plötzlich alle los, ohne zuvor auch nur einen Augenblick nach der Ursache für den Schrei zu schauen.

Norbert zog es vor, die Toilette sofort zu verlassen. Zum einen wusste er nun, dass seine Familie nicht hier war, andererseits wollte er weiterem Stress mit den Frauen aus dem Weg gehen. Die bösen Blicke der Damen, die noch in der Schlange standen, fühlten sich für ihn an wie Peitschenhiebe. Erleichtert atmete er durch, als er endlich an ihnen vorbei war.

»Da! Da ist er, dieser ... dieser Wüstling!«

Genau das hatte ihm jetzt gerade noch gefehlt. Die alte Frau, mit der er schon zweimal Bekanntschaft gemacht hatte, stand einige Meter von ihm entfernt da und zeigte unverhohlen mit ihrem Finger auf ihn. Ihr Gesicht war rot vor Aufregung und sie zitterte sogar etwas. Neben ihr standen zwei Bundespolizisten, die zu den Ordnungskräften des Münchner Flughafens gehörten - eine recht kräftige Frau mit halblangen, rotbraunen Haaren und ein junger Mann, der so schlank war, dass seine Uniform wie ein mehrere Nummern zu groß geratenes Hemd an ihm herunterhing. Auch deren Blick war ernst und verfinsterte sich noch, als sie die aufgeregte Menge der Frauen sahen, die aus der Toilette herausströmte.

»Sehen sie es? Sehen sie es? Habe ich es ihnen nicht gesagt? Dieser ... dieser Rüpel hat es auf die ahnungslosen Frauen hier abgesehen. Ich habe es ihnen gesagt! Sie müssen diesen Mann unbedingt ...«

»Nun halten sie doch erst einmal die Luft an! Was soll denn der Unsinn?«, schnitt Norbert Lang der Frau genervt das Wort ab, doch nun griffen die beiden Beamten selbst ein.

»Ob hier etwas Unsinn ist oder nicht, das entscheiden wir, bitteschön!«

»Aber ...«, fielen ihnen Norbert und die alte Frau gleichzeitig ins Wort.

»Jetzt rede ich und da haben sie Sendepause. Sie beide! Verstanden?« Die resolute Ordnungshüterin ließ keinen Zweifel daran aufkommen, wer hier das Sagen hatte. An Norbert Lang gewandt, setzte sie fort: »Und sie kommen jetzt erst einmal mit uns mit.«

Ein flüchtiger Blick auf die Uhr ließ die Frequenz von Norberts Pulsschlag noch weiter in die Höhe schnellen. Inzwischen war es halb sieben. In genau zwei Stunden würde ihr Flieger starten. Und im Moment hatte er keine Ahnung, wo sich seine Frau und seine Kinder befanden. Die Ordnungskräfte waren drauf und dran, ihm Ärger zu bereiten und die penetrante, streitsüchtige Alte stand da und lachte ihn triumphierend an. Irgendwie war das zu viel für ihn.

»Ich kann das alles erklären«, versuchte Norbert, die Situation zu entschärfen. Doch bereits an den skeptischen Gesichtern der Beamten konnte er ablesen, dass auch dieser Versuch nicht erfolgreich sein würde.

»Sie kommen jetzt erst einmal mit. Dann werden sie auch die Gelegenheit bekommen, ihr Verhalten zu erklären.«

»Nein, nein. Sie verstehen nicht! Unser Flug geht in zwei Stunden und ich muss jetzt meine Familie finden.«

»Ahh, ihre Familie! Sie suchen also ihre Familie? In Damentoiletten? Sehr interessant. Wo soll denn ihre Familie sein?«, fragte der schlanke Beamte mit unüberhörbarem Sarkasmus in seiner Stimme.

»Sie müssten einfach da drüben stehen und auf mich warten. Tun sie aber nicht ...«, versuchte er noch einmal, die Situation aufzuklären, doch auch diesmal kam er nicht viel weiter.

»So sieht's wohl aus. Schluss! Jetzt ist es genug. Sie kommen mit, dann können sie gern in aller Ruhe ihre Geschichte erzählen!«

6:47 Uhr
Wachzimmer der Bundespolizei, Flughafen München

»Was hatten sie in den Damentoiletten zu suchen?«, fragte die Beamtin zum wiederholten Mal.

»Wie oft soll ich es denn noch sagen. Ich habe meine Frau und die Kinder hier am Flughafen abgesetzt, dann habe ich das Auto auf den Parkplatz gefahrenen. Hier ... hier ist die Quittung. Und als ich dann wieder am Flughafen ankam, waren sie nicht mehr am vereinbarten Treffpunkt. Und da es mir am wahrscheinlichsten erschien, dass sie vielleicht mit Sack und Pack zu einer der Toiletten marschiert sind, habe ich dort nachgeschaut.«

»In der Damentoilette?«

»Na wo denn sonst? Soll ich meine Frau und meine Tochter etwa im Männerklo suchen? Sie sind gut!« Norbert Lang musste sich schon sehr zusammennehmen, um nicht laut zu werden.

»Die Frau hat aber ausgesagt, dass sie einfach in das WC gekommen sind, um Frauen zu beobachten«, entgegnete die kräftige Frau vom Sicherheitsdienst.

»Ich habe geschaut, ob meine Frau da drin ist!«, fauchte Norbert an der Grenze seiner Beherrschung.

»Lass gut sein, Dagmar!«, mischte sich nun der spindeldürre Sicherheitsmann ein, der gerade die Parkquittung begutachtet hatte.

»Und warum haben sie ihre Frau nicht einfach ausrufen lassen? Das wäre doch das Einfachste gewesen?«

»Ich weiß doch auch nicht«, antwortete Norbert kleinlaut, »Kann ich jetzt bitte losgehen, um meine Familie zu finden. Wir haben nur noch anderthalb Stunden Zeit. Bitte.«

Irgendwie hatte Norbert die Sicherheitskräfte nun doch von seiner Unschuld überzeugen können. Tief durchatmend verließ er das Wachzimmer und lief zum nächsten Servicepoint. Ungeduldig wartete er ab, bis das Pärchen vor ihm eine Wegbeschreibung zum Schalter ihrer Fluggesellschaft erhalten hatte. Dann wandte sich die hübsche junge Frau an ihn.

»Was kann ich für sie tun, mein Herr?«

»Könnten sie bitte meine Frau ausrufen. Wir haben uns aus den Augen verloren.«

»Aber sicher. Schreiben sie mir ihren Namen hier auf den Zettel«, antwortete sie freundlich lächelnd.

»Meinen Namen?«

»Den ihrer Frau natürlich.«

»Natürlich!«, erwiderte Norbert, dessen Gesicht sich leicht rot färbte.

»Könnten sie bitte auch noch ihre Flugnummer dazuschreiben?«, fragte die Frau freundlich weiter.

»Die habe ich jetzt nicht im Kopf und die Tickets sind bei meiner Frau. Wir fliegen nach Ibiza, acht Uhr dreißig. Reicht das?«

Nickend nahm sie den Zettel entgegen, tippte kurz etwas in die Tastatur ihres Computers und begann dann mit ihrer Durchsage.

»Die Passagierin Sariah Lang, Flug 3398 mit Air Berlin nach Ibiza, wird gebeten, sich am nächsten Servicepoint zu melden. Die Passagierin Sariah Lang, Flug 3398 mit Air Berlin nach Ibiza, wird gebeten, sich am nächsten Servicepoint zu melden. Passenger Sariah Lang, Flight 3398 with Air Berlin to Ibiza, please contact the next servicepoint. Passenger Sariah Lang, Flight 3398 with Air Berlin to Ibiza, please contact the next servicepoint.«

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